Meinungen

http://www.landesarchiv-bw.de/web/56549 Neue Musik im Staatsarchiv Ludwigsburg Uraufführung der Performance „Antiphone reloaded“ 11.4.2014
Es war ein Abend der ganz besonderen Art am vergangenen Mittwoch (9. April 2014) im Staatsarchiv Ludwigsburg, als die Performance „Antiphone reloaded“ ihre Uraufführung erlebte. Erstmals überhaupt wurde das gläserne Treppenhaus des Archivs für eine musikalische Aufführung genutzt. Der Eindruck auf die Besucher war überwältigend. Zu hören waren ungewohnte Klänge, komponiert von Matthias Schneider-Hollek unter Verwendung von Musikalien aus dem Staatsarchiv und dargeboten von ihm selbst mit der Flöte und dem Rechner sowie von der renommierten Sopranistin Angelika Luz als Sängerin. Dazu gestaltete Angelika Flaig eine Performance mit Lichtprojektionen, die auf dem spielerischen Umgang mit Archivalien und Kunstwerken von ihr und der Kalligraphin Sigrid Artmann basierte.
Vor der Aufführung hatte das Publikum Gelegenheit, einige der Musikalien aus den Beständen des Staatsarchivs und des Hohenlohe-Zentralarchivs – darunter auch die, die von Schneider-Hollek für seine Komposition verwendet wurden – im Original zu bestaunen und sich mit der Entwicklung der Notation vom Mittelalter bis heute vertraut zu machen. Anschließend verzauberten Angelika Flaig, Matthias Schneider-Hollek und Angelika Luz während der hereinbrechenden Dämmerung das Foyer mit ihren Klängen und Lichteffekten in einen Raum von ganz eigener ungewohnter Atmosphäre. Zu hören waren Variationen über ein einfaches Volkslied aus den hohenlohischen Beständen, aber auch Klänge, die auf der Basis digitalisierter Fragmente von Antiphonen elektronisch erzeugt wurden. Auf diese Weise entstand ein Abend, der dem Publikum eine ganz besonderen Zugang zu Archivgut ermöglichte.
http://www.nmz.de/online/nicht-irgendwann-sondern-utopie-jetzt-10-festival-neue-musik-im-raum-kirche-in-muelheim-an-de

Ulrich Beck (NMZ) schreibt u.a.:
Klar sein
Wie immer hofften die zahlreichen Festival-Freunde auch dieses Mal wieder auf Manfred Schreier und sein Trossinger Ensemble Polyphonie T. Und wurden nicht enttäuscht. So sicher und so mutig allein die programmierende Handschrift von Schreier. Clytus Gottwalds Haydn-Annäherung (Genesis), Lachenmanns spät bearbeites Frühwerk Consolation sowie zwei Nono-Lichtblicke. Selten hat man La fabricca Illuminata so herb und bildreich ausgesteuert gehört wie hier. Dieser Sturzbach aus Schrauben und Bolzen, diese Schicksalsmetapher gegen die sich die Stimme (Alice Fuder) so inspirierend stemmt. Im Finale dann das Spätwerk „Das atmende Klarsein“, das selten zu hören und noch seltener so durchleuchtet zu hören ist wie in dieser Realisierung mit Matthias Schneider-Hollek, der die liveelektronische Transformation des Klangs der Bassflöte (ganz fabelhaft Valerio Fasoli) und der Gesangsstimmen absolut überzeugend realisierte. Utopie jetzt! Ab jetzt auch ein anderer Name für Klarsein.

  • mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der nmz –

2010

Hans-Peter Jahn, SWR Stuttgart –
Im Grenzland zwischen Kunst und technischer Innovation
Der Komponist Matthias Schneider-Hollek
Matthias Schneider-Holleks Musik zeigt auf, wie groß das Spektrum der Eingriffsmöglichkeiten in die konventionellen Instrumentarien durch den Einsatz von elektronischen Klängen sein kann. In der Kammermusik des 1963 in Waiblingen geborenen Künstlers treten zwei nur oberflächlich divergierende Klangwelten in Beziehung. Der Begriff „Kammermusik“ ist hier bewusst gewählt, zumal das Instrumentarium bei ihm bisher eher klein gehalten ist. Mit den wenigen konventionellen Instrumenten im Verbund mit Rechnern, Samplern und Live-Elektronik erschafft Matthias Schneider-Hollek dann allerdings mannigfache Klangwelten, die vom orchestralen Toben bis zu sensibelsten Schattierungen solistisch bestimmter Entscheidungen reichen. Das Faszinierende an diesen unterschiedlichen Klanginszenierungen ist ihre Fähigkeit, in jedem Raum gleich präsent zur Wirkung zu kommen. Und damit sind der dritte Instrumentalist in diesem kammermusikalischen Team die Lautsprecher selbst. Sie sind es, die mit minutiöser Präzision die Räume mit jenen vielfach waghalsigen, oft riskanten, mitunter kitschigen, manchmal auch sentimental-romantischen oder auch ergreifend wehmütigen Kompositionsentwürfen füllen und zwar immer so, dass die Verortung der Lautsprecher einem Kunstwerk, einer raum-architektonischen Strategie entspringt. In der Vielfalt der künstlerischen Fähigkeiten von Matthias Schneider-Hollek kommt nun noch zum Instrumentalisten (Flöte), neben dem Komponisten, Sampler und Rechnerakrobaten ( gemeint ist damit der Zauberer, dessen Zauberstäbe die jüngsten Errungenschaften von neuesten Softwareprogrammen, neuen Klangmanipulationen und -imitationen zum Tanzen bringen) auch der Tonregisseur hinzu. Also der Raum-Gestalter und Organisator der Effekte des künstlerisch Erfundenen, sozusagen der Magier zwischen Werk und Publikum.
Die Musik von Matthias Schneider-Hollek zu beschreiben, ist ungemein schwierig, weil sie mit dem Bewusstsein gegenwärtigen Komponierens von Komponisten der Neuen Musik nicht viel gemein hat. Dennoch sind alle technisch-instrumentalen Möglichkeiten, alle Klang- und Geräuschspektren der Avantgarde Matthias Schneider-Hollek verfügbar. Aber seine Musik verzichtet auf das Getriebensein eines permanent innovativen Suchens um jeden Preis. Er ist quasi aus der laufenden Musikgeschichte ausgestiegen und bezieht alle Möglichkeiten, die je vor ihm erfunden oder gefunden wurden, in sein Schreiben und Denken mit ein. Konsonantische Klänge werden vielfach mit Ironie, mit Ernst, mit Zitatcharakter meist so eingesetzt, dass sie mit expressiv-perkussiven Attacken ihrer minimalistischen Struktur Bekanntes perforieren und damit neu entstehen lassen. Die technische Ambition steht im Zentrum dieser Arbeiten, also raffinierte Klangsprache, mit der frei improvisierend Ausdruck erfunden wird. Das Spiel zwischen Leichtigkeit und Überraschung macht ein unmittelbares Zuhören leicht. Die Antiverhirnung, die sich Matthias Schneider-Hollek selbst als Credo eingeschrieben hat, läuft allerdings mitunter Gefahr, das Zirzensische der Klänge zu automatisieren. Denn auch in diesem attraktiven „Klang-Zirkus“ gibt es ein Formelarchiv, das sich seines eigenen Ghettos bewusst werden will. Das anämische, also blutentleerte Symptom ließe sich jeder Art von kompositorischer Redundanz zuschreiben. Grenzen sprengend und in eine eigenwillige Poesie sich aufmachend, sind dann aber die Arbeiten von Matthias Schneider-Hollek, wenn neben der elektronischen Klangwelt ein Klavier oder ein Violoncello unverfremdet Kammermusik inszenieren. Ein Spiel zwischen sorgloser Sentimentalität und ostinativ kalten Rhythmen, aber auch zwischen überraschender Eingriffe in eine idyllische Klangwelt und assoziativen Gartenzaunstelldicheins mit dem Jazz bleiben immer subtil, nie wird instrumental oder technisch gebrüllt. Eine vertraute und zugleich unbekannte Noblesse ist diesen komponierten Improvisationen eingeschrieben. Zartheit und Feinschliff prägen solcherart Zusammenspiel.
Mit den Kategorien der Ästhetiken innerhalb der unterschiedlichen Strömungen der Neuen Musik lassen sich – wie schon oben bemerkt – die Kompositionen und Improvisationen von Matthias Schneider-Hollek kaum klassifizieren. Sie entziehen sich diesen Kriterien. Sie boykottieren sie geradezu, weil die spontanen Erfindungen der Technik im Moment der jeweiligen Aufführungen – aufgeladen durch sehr persönliche und eigenwillige künstlerisch-kreative Substanz – nicht benennbar sein wollen.
Seine Klanglandschaften, die entstehen, bilden ihr eigenes Publikum. Und es geht nicht um Massenereignisse, nicht um künstlerische Karrieren und Herrschaftsrituale, sondern um pointierte Events, die immer auch eine ironische Brechung miteinbeziehen. Furore machen mit heiterster Gelassenheit. Aufsuchen von Ausdrucksformen, die repräsentativ die Verwüstungen gegenwärtiger Massentechnik reflektieren. Träumen von einer anderen Welt mit den schärfsten Mitteln, gegen den Widerstand der Ohren. Subtilität, Leichtsinn, Kitsch, technischer Schnickschnack, Lärm, Spielfreude, Spiritualität und Extremismus paaren sich in solchen Laptopereignissen.
Das Projekt Schichten intoniert, was das Fragezeichen setzt. Ist es Musik, ist es Bearbeitung, ist es Analyse, ist es Annäherung mit dem komponierenden Mikroskopan ein Dokumentationsmaterial, das aus seinem historischen Schlaf gesellschaftskritisch erweckt werden soll? Ist es ein Raumereignis, eine visuell-akustisch-mehrdimensionale Überrumpelungsstrategie? In Matthias Schneider-Holleks vorsichtig formulierter ästhetischer Position dominiert noch eine weitere Idee: In Bezug auf die fast abgeschlossene Digitalisierung aller Lebensbereiche sollen auch die bildnerischen Strukturen der Partituren in musikalische Strukturen transformiert werden und zwar durch selbstprogrammierte Prozesse in der Entwicklungsumgebung von MAX / MSP / JITTER. Und diese Strukturen fließen dann sowohl in den neuen Notentext als auch in die Elektronischen Echtzeitbearbeitungen mit ein.
Neben diesem innerkompositorischen Vorgang spielen zwei weitere, geradezu futuristisch anmutende Entscheidungen eine wichtige Rolle: Zwei akustische Realitäten, einmal die von dem britischen Mathematiker Michael Gerzon entwickelte Raumklangtechnologie „Ambisonics“ (es handelt es sich um eine besondere Mikrophontechnik, mit der eine mehrkanalige Aufnahme erstellt wird, welche die räumliche Information des Schallfeldes trägt und schließlich über ein Lautsprechersystem derart wiedergegeben werden kann, dass sich der Eindruck dreidimensionalen (periphonen) Hörens einstellt, d. h. das Schallfeld wird weitgehend originalgetreu übertragen und virtuelle Schallquellen sind korrekt und präzise lokalisierbar) und „Convolution“ (Faltungshall (convolution reverb) hat eine „Probe“ eines realen akustischen Raumes als Grundlage. Durch Erzeugen eines Geräusches kann der individuelle Nachhall jedes beliebigen Raumes als Impulsantwort aufgenommen werden. Es ergibt sich ein typischer Signalverlauf, der auch als Fingerabdruck“ des individuellen Raumklanges bezeichnet wird.
Mit diesem individuellen Raumklang kann dann jedes Audiosignal versehen werden, d.h. im konkret vorhandenen historischen Raum werden virtuelle akustische Räume und Raumtransformationen erzeugt) werden einbezogen. Was heißt das nun für das Projekt Schichten : Im konkret vorhandenen historischen Raum werden virtuelle akustische Räume und Raumtransformationen erzeugt. Wie in einem Archiv können entfernte Architekturen in die Aufführungsarchitektur transportiert werden. Auch können Architekturen visueller Exponate akustisch in die Konzertsituation projiziert werden.
Aus der Grundidee des Archivierens werden künstlerische (hier musikalische) Konzepte entwickelt, die die vordergründig nüchterne Funktion eines Archivs sinnlich erfahrbar machen. Die erklärten, dem Konzertpublikum zu erläuternden Transformationsvorgänge sollen die Komplexität der Archivprozesse von heute aufgreifen und wiederspiegeln.
Und ein weiteres interessantes Spannungsverhältnis ist intendiert, das aus einer inneren Opposition zwischen Archiv und Musik sich ergibt: Ein Archiv ist dazu da, die Zeit anzuhalten, Geschichte in der Permanenz von Gegenwart zu konservieren, wo hingegen die Musik immer flüchtig ist, sich in der ständig fortbewegenden Realzeit ihre eigene Zeitlichkeit verschafft und somit im Zeitfluss eine eigene Geschwindigkeit mit Ereignissen exponiert, die nicht festzuhalten sind. Das Zusammentreffen dieser beiden konvergierenden Realitäten „Musik“ und „Archiv“ machen mit diesen technischen Kniffs und innovativen Verräumlichungen von Klang- und Gegenstandsmaterial aus Musik Archivarisches und aus einem Archivstoff eine ghettobefreite Klangskulptur.

STUTTGARTER NACHRICHTEN OKTOBER
Harfinistin Barbara Kysela und Flötist Matthias Schneider-Hollek müssen sich die Fotografien von Cathleen Naundorf gut angeschaut haben. Spinnwebenzart sind die „Positionen der verlorenen Zeit“, die bei der Vernissage erklingen. Es sind sphärische Stücke, die von den Musikern als Hommage an die Fotografien der Wahl-Parisern Naundorf komponiert wurden und die bestens zu den Bildern passen, die mitunter nicht ganz von dieser Welt zu sein scheinen.

„DANACH“ / ECLAT 2010 (OTTO PAUL BURKHARDT)
Dann aber das volle Kontrastprogramm: Das 25-minütige Werk „danach“ eines gewissen „Frieder Nahowski-Marienthal“ gibt sich als knallige Satire zu erkennen – dahinter verbergen sich der Stuttgarter Klangregisseur Matthias Schneider-Hollek und andere.
Auf der Bühne sehen wir ein hochgebildetes Paar im Kriegszustand. Ein Endspiel von Mann und Frau, die sich nur noch angiften, garniert mit Verweisen auf Rilke bis Beckett, versteht sich. Dazwischen dröhnen vier heftige Klangphasen aus dem Off ans Ohr: verklumpte, übereinander geschichtete Fetzen aus der Musikgeschichte von Beethoven bis Schönberg – Geräuschattacken, die sich zu einem All-Klang-Orkan verdichten. Nicht schlecht, die Idee – mit hintergründigem Humor: So erleben wir laut Programmheft rund 1100 „SplitterSzenen“ aus Weltliteratur und Musikgeschichte in nur 25 Minuten – wenn das mal kein böswitziger Kommentar zum „rasenden Stillstand“ unserer Zeit ist!
Oder ein Ulk zum Sparzwang? Auch das Neue-Musik-Festival Eclat musste krisenbedingt die Bremse ziehen und sein Angebot von bisher elf auf sechs Konzerte einschränken. Ein Umstand, dem Festivalleiter Hans-Peter Jahn ohne die übliche Jammerei begegnen will, nämlich „mit cleverem Durchstarten, mit Kreativität und humoriger Logistik“. Zumindest der Auftakt zeigte: Das Festival Eclat leuchtet nach wie vor – nicht nur wegen Rosalie.

2009
Claire Golls Gedichte über die Liebe erfüllen die Galerie
Kornwestheimer Zeitung / 02.11.2009
Kornwestheim Literarisch-musikalischer Abend im Kleihuesbau fasziniert Zuhörer. Von Kathrin Klette
Ein verdunkelter Raum, durch den ein dumpfes Grollen klingt – für kurze Zeit ist dies das einzige, was die Besucher im großen Saal der Galerie wahrnehmen, bevor die Schauspielerin Christiane Klann den Raum betritt. Ohne Worte stellt sie sich in den grellen Lichtkegel des einzigen Scheinwerfers. Es gibt keine Bühne, die Zuschauer sitzen auf Stühlen, die im ganzen Saal verteilt sind. In dieser verdichteten Atmosphäre beginnt die Schauspielerin ihre Darbietung, begleitet von den Kompositionen von Matthias Schneider-Hollek.
Werke der deutsch-französischen Schriftstellerin und Journalistin Claire Goll waren es, die Christiane Klann am Samstagabend im Kleihuesbau vortrug: Auszüge aus Golls biografischen Roman „Der gestohlene Himmel“, Gedichte und Schriften über Leben und Tod, Glück und Leid, Angst und Liebe – Liebe besonders zu ihrem Ehemann Yvan Goll, der das verbindende Glied zwischen der Darbietung am Samstagabend und der Ausstellung „Litho-Sphären“ der Künstlerin Angelika Flaig darstellte, die derzeit im Museum im Kleihuesbau zu sehen ist. Denn „Litho-Sphären“ ist eine Hommage an den Dichter Yvan Goll, dessen expressionistisch-surrealistische Werke Flaig in ihren Lithografien verarbeitet hat. Wie hierbei Kunst und Literatur Hand in Hand gingen, erklärte Museumsleiterin Dr. Irmgard Sedler, sollten auch beim Literaturabend die Elemente ineinanderfließen: Kunst und Musik, Musik und Literatur, Literatur und Kunst.
Schnörkellos und mit klarer Sprache brachte die Schauspielerin und Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg Christiane Klann den Kern der Gedichte von Claire Goll auf den Punkt, ihre Komik wie auch ihre Tragik. Gekonnt ließ sie die gebannten Zuhörer in die Welt der Dichterin eintauchen, während ihre Beiträge sie durch den gesamten Raum führten. Mal sprach sie von den äußersten Winkeln des Saals aus, sodass für manche nichts von ihr zu sehen war als ein dunkler Schatten an weißer Wand, mal sprach sie sitzend auf einer Bank von der Mitte des Raumes aus und gab ihrem Vortrag damit auch optisch immer neue Perspektiven.
Musikalisch begleitet wurde sie von Matthias Schneider-Hollek, der seine Beiträge eigens für diesen Abend komponiert und gestaltet hatte und den Worten eine zusätzliche spannende Komponente verlieh. Denn die Kompositionen des international bekannten Spezialisten für Klangregie und Live-Elektronik waren nicht nur bloßes Beiwerk, sondern unabhängiges Medium, das Claire Golls Werke perfekt in Szene setzte und zugleich seine ganz eigene Stimmung mit sich brachte. Dies vermochte der Musiker durch einen Klangteppich metallisch klingender Rhythmen, klarer und elektronisch verzerrter Klavier- und Flötenklänge oder Vogelgezwitscher. Die Effekte wurden dabei nicht nur live mit einem Computerprogramm erzeugt, sondern in teils freier Interpretation ganz neu kreiert. „Die Texte werden ja auch nicht immer gleich gesprochen“, erklärte Schneider-Hollek. „Für mich ist es darum viel spannender und auch sinnvoller, die Musik nach dem Moment zu gestalten.“

STUTTGART. Die 23. Theaterhaus-Jazztage endeten so fantasievoll und spektakulär, wie sie mit dem Wiener
Radio String Quartet begonnen hatten. Zum Festival-Ausklang am Ostermontag betrat der in Ravensburg geborene und in New York lebende Geiger Gregor Hübner mit seiner neu gegründeten New York Lounge die Bühne des gut besuchten T2-Saals und besorgte dem fünftägigen Festival ein grandioses Finale. So, wie man sich vom intensiven Puls der lärmenden Geräuschkulisse New Yorks durchaus anstecken lassen kann, ergeht es einem auch bei diesem Auftritt. Denn die fünf Individualisten um Gregor Hübner schaffen mit ihrer Musik eine ganz eigene Ästhetik und spielen ihre Instrumente mit viel Spielfreude und enormer Stilvielfalt. Wenn es einen roten Faden gibt in diesem Programm, dann ist es die ausgefeilte Technik und ihre Verschmelzung mit experimentellen Sounds. Die Geräusche springen zwischen afro-kubanischen Rhythmen und verfremdetem Lounge- Jazz hin und her und werden durch die dichten Geigenklänge Hübners zusammengehalten. Später werden Einflüsse aus der Neuen Musik mit schrägen Jazz-Elementen verbandelt. Differenzierte Grooves, knappe Kürzel, freie Improvisation, ethnische Weltmusik, psychedelische Melodien und Neue Musik sind hier nur einige Schlagworte. Dies alles formen die sechs süddeutschen Musik-Anarchisten – allein Perkussionist Jerome Goldschmidt stammt aus New York – zu einem Genre übergreifenden Sound. Besonders Hübners weltumspannende Violineinlagen quittiert das Publikum mit viel Beifall.

2008
Die digitanaloge Livekonserven-Tanzavantgarde
(Michael Riediger / WAIBLINGER KREISZEITUNG)
„Avantgarde meets Clubsounds“ – und Analoges trifft Digitales, Modernstes klingt zusammen mit Archaischem, und die
Grenzen zwischen live gespielter und aufgezeichneter Musik verschwimmen:
Darum geht es bei dem faszinierenden Projekt Durban Poison des Winnenders Matthias Schneider-Hollek. Er und Mitstreiter gastierten jetzt mal wieder in den Stuttgarter Wagenhallen. Ein Musiker (Stefan Charisius) zupft Zartes auf der Kora, einem westafrikanischen Saiteninstrument, während ein zweiter (Klaus Burger) auf seiner Posaune – eine selbst gebaute Spezialkonstruktion mit nach unten gebogenem Zug – getragene Töne bläst. Bis diese eine Art elektronisches Echo beantwortet, das von Maschinen stammt, dem eigentlichen Zentrum des Durban-Poison-Sounds. Deren Maschinist, der Winnender E-Musik-Komponist Matthias Schneider-Hollek, hat die analogen Töne seiner Mitspieler gerade eben während des Konzerts aufgenommen und lässt sie nun als sich wiederholende Klangschleifen („Loops“) ablaufen, um sie in immer neuen klanglichen Konstrukten via Computerbearbeitung zu verfremden. So wird aus einer Live-Situation etwas Artifizielles, Konserviertes wird neu aufgelegt, Klang wird recycelt zu Neuem. Zwei Musiker spielen etwas – und dann greift Klang- Konstrukteur Matthias Schneider-Hollek deren Bälle auf, während die beiden fasziniert beiwohnen, was aus ihren Vorlagen wird. Ein Sinnbild für die Möglichkeiten von Livemusik in der digitalen Moderne: Durban Poison mit dem Kora-Spieler Stefan Charisius in den Wagenhallen. Eine Begegnung von afrikanischer Harfe und babylonischer Elektronik, ein Miteinander der Kabel und Knöpfe Schneider-Holleks mit archaischen Instrumenten, wie sie neben Charisius auch Klaus Burger spielt, darunter Tuba, Posaune, Minitrompete, Didgeridoo und leere Bierflasche. Dass dieser „cultural clash“ auch noch groovt, dafür steht der Projektname „Rhythm&Didge“, unter dem Schneider-Hollek und Burger schon öfters Tanzbares mit Neuer Musik fusionierten, diesmal zusätzlich mit einem afrikanischen Trommler. Er arbeitete schon mit Björk Schneider-Hollek hat bereits mit Björk gearbeitet, hat Theatermusik geschrieben und Soundtracks fürs Fernsehen, hat das Stuttgarter Neue-Musik-Festival Eclat im Theaterhaus klangtechnisch betreut und verschiedene Auftragsarbeiten angenommen, zum Beispiel oft in Bereichen künstlerischer Avantgarde, oft auch rein kommerziell motiviert. Ein Musiker ohne Scheuklappen, der offenbar nicht zwischen E und U, zwischen Neuer und Pop-Musik unterscheidet. Sein Projekt Durban Poison passt vielleicht nirgendwo besser hin als in die Stuttgarter Wagenhallen, die alte Bahn-Brache am Nordbahnhof, wo eine junge, aufgeschlossene Avantgarde-Szene ihre neue Spielwiese gefunden hat, um sich auszuprobieren. Und Schneider-Hollek spielt begeistert mit.

2007

Von unserem Redaktionsmitglied Peter Schwarz
Winnenden.
Der Winnender Matthias Schneider-Hollek ist Instrumental-Musiker: Er spielt Laptop. Einblicke in die faszinierend fremde Schaffensweise und die erstaunlich reichen Betätigungsfelder eines DigitalAvantgardisten . . .
Zwei Musiker, ein Aufführungsort: hie der Tuba-, Didgeridoo- , Pazifische-Muscheln- und Wasauchimmersonstnoch-Spieler Klaus Burger, da Matthias Schneider-Hollek – und dazwischen: ein zweieinhalb Kilometer langer Bundesstraßentunnel unter der Stadt Baden-Baden, wegen Renovierungsarbeiten für den Verkehr gesperrt. Und während Hollek am einen Röhren-Ende auf seinem Laptop musiziert, bricht Burger am anderen mit einem Mutter- Courage-Karren voller Instrumente auf und durchschreitet, stetig spielend, Schritt für Schritt den Tunnel, bis die beiden kühnen Unterwelt-Erforscher sich zum guten Schluss gefunden haben. Was Burger spielt, hört Hollek zeitgleich, via Funkmikro wird es ihm in Lichtgeschwindigkeit zugetragen. Daneben gibt es aber eine zweite Ebene: Der unverstärkte Echtklang geht in der hermetischen Tunnelwelt nicht verloren, sondern dringt zeitversetzt, in Schallgeschwindigkeit, Sekunden später bis zu Hollek vor. Die Klänge verflüssigen sich förmlich an den Wänden, Urtöne verfangen sich im Gespinst aus Echos und Wider-Echos, der Hall treibt Vexierspiele, der Originalschall irrlichtert wie ein Spuk seinem mikrofonisch übertragenen Sendboten hinterher, seinerseits verfolgt von Reflexionen. Nahe und ferne Töne durchdringen einander, die akustische Vergangenheit blendet sich in die Gegenwart hinein. Nebelhornartige Klänge; feinstes Knistern, wie hörbar gewordene elektrostatische Ladung; minimalistische Melodien – all das verweben der Laptopper und sein Partner, bis aus anfangs vereinsamt im Tunneldunkel klagenden Tönen majestätisch fremde Klangballungen aufschwellen.
Wie ein Freejazzer: Improvisieren am Computer „Aktuelle Avantgarde-Musik. Live-Elektronik“: So nennt Schneider-Hollek sein Tun. Der klassisch ausgebildete Musiker (Querflöte, Kompositionslehre, Aufbaustudium elektronische Musik) nimmt mit dem Mikro Klänge des Moments auf, speist sie in den Computer ein, bearbeitet sie, entnimmt dem ursprünglichen Klangkontinuum einzelne Partikel, seziert das Ausgangstonmaterial, schneidet es in feinste Stücke, bis ihre Ursprungsquelle nicht mehr erkennbar ist, spielt einen aus seinem akustischen Zusammenhang herausgetrennten tönenden Augenblick als Endlosschleife immer wieder ab, kombiniert ihn mit anderen, neu in die Maschine fließenden Klängen, ordnet sie zu rhythmischen Mustern an, unterfüttert sie mit auf der Festplatte gespeicherten Grooves, schichtet Geräusche darüber. . . kurzum: Er improvisiert wie ein Free-Jazzer; nur eben nicht am Sax oder Klavier, sondern am Laptop. Er musiziert mithilfe einer Software, deren Programm- Oberfläche aussieht, als habe der verrückte Professor aus „Zurück in die Zukunft“ sie entworfen. Wer dieses Instrument spielen will, muss ein Virtuose sein; ein Stümper würde womöglich mit einer einzigen falschen Millimeterbewegung der Maus ein Inferno auslösen – oder eine halbe Stunde schlimmst herumschrauben, ohne mehr zu erzeugen als einen Knackser.
Und falls das klingt, als gehe es hier um einen verstiegenen Wirrkopf, einen jeder Bodenhaftung verlustig gegangenen Avantgarde-Arroganzling – Schneider-Hollek, 43, verheiratet, zwei Kinder, plaudert entspannt, verständlich und dünkelfrei über all das auf seinem Balkon in Winnenden neben Kehrwisch und Kutterschaufel. Der Markt für solch neue Musik ist überschaubar – und doch ist Schneider-Hollek „wunderbar beschäftigt“: Die Expedition in den Tunnel hat der SWR technisch unterstützt und im Radio übertragen; neulich wirkte Schneider-Hollek in Wien bei einer experimentellen Dichterlesung mit – Texte zur Alchimie, dazu Tuba und Laptop; er musizierte in Brüssel und Mailand; liefert für das Stuttgarter Radio-Sinfonie- Orchester bei Aufführungen moderner E-Musik, in die der Komponist Klangeinspielungen hineingeschrieben hat, Elektronik nach Partitur; macht Musik für Dokumentarfilme auf Arte und 3Sat; unterrichtet an Musikhochschulen; und spielt in Biergärten.
Biergärten?! „Natürlich ist es komplex, und es ist fremd“ fürs Publikum – aber Schneider-Hollek hat festgestellt: „Wenn’s groovt, kann man die wildesten avantgardistischen Klanggebilde drüberbauen.“ Oft genügt als Grundlage ein klar definierter Drum-Loop, ein rhythmischer Anker, ein sicheres Ufer der Vertrautheit – und schon freunden sich Leute, die das selber vorher nicht für möglich gehalten hätten, mit den vogelwildesten Schallerkundungen an. Auch wenn die Formatradio-Strategen so tun, als liege das Heil allein in der möglichst totalitären Gleichschaltung des Geschmacks und einer vollkommen abwechslungslosen, überraschungsfreien Wüsten-Ödnis, der noch das letzte Stachelgewächs, die letzte exotisch blühende Pflanze ausgejätet ist – es gibt im Publikum offenbar doch eine unausrottbare Neugier auf nicht dutzendfach vorgekaute Hörerfahrungen.